Liebes Nachtleben

Liebes Nachtleben,

du und ich, wir werden irgendwie nicht so richtig warm miteinander, hm? Auch nach mehreren Jahrzehnten bin ich nicht besser geworden im ‚um-die-Häuser-ziehen‘. Ich muss das nicht haben. Gerne an einem Ort, aber dieses Rumgelaufe zwischendurch und all die unangenehmen Begleitumstände gehen mir schwer auf den Zeiger.

Dochdoch, neenee: Ich gehe total gerne tanzen. Ich liebe laute Musik. Ich stehe auf Parties regelmäßig hinter dem DJ-Pult. Ich trinke gern Gin Tonic aus 0,4-l-Gläsern. Das ist toll! Und am schönsten ist all das, wenn ich weder mit (mir) unangenehmen Menschen irgendwo anstehen, die halbe Nacht krampfhaft auf mein Portemonnaie aufpassen oder meine Jacke an irgendwelchen düsteren Garderoben abgeben muss, die vermutlich im Jahr 1978 zuletzt eine Feuchtreinigung gesehen haben.

Das ganze anonyme Drumherum des klassischen Nachtlebens ist mir suspekt. Schlangestehen in der Kälte, bah. Teure Taxifahrten quer durch die Großstadt, nervig. Kiezatmosphäre, Kneipenböden klebrig wie Fliegenfallen – da bricht bei mir das große Fremdeln aus, so betrunken kann ich gar nicht sein, dass ich das irgendwann einmal toll finde.

Die meisten anderen scheinbar schon. Geil, Prostituierte! Zwei Junkies in der Schlange bei BurgerDing! Und überall diese fantastisch heruntergekommenen Leute! Was ist das hier nur so herrlich COOL! Dazwischen dann eine Busladung Pinneberger* auf der Suche nach dem ganz echten Kiezgefühl. Die Gleichung abgerockt = hip geht bei mir in der Regel nicht auf. Ganz ehrlich: Da will ich nur noch nach Hause.

Und noch was Nachtleben-Inkompatibles: Ich bin nicht gut im Angebaggertwerden. Da werde ich ohne Umweg direkt unentspannt – und zwar umso unentspannter, je unattraktiver ich das Gegenüber finde. Ich kann da nichts machen, es ist wie ein Reflex. (Den Mann stört es natürlich nicht, aber das ist ein anderes Thema.) Angebaggertwerden findet natürlich im klassischen Nachtleben vergleichsweise eher statt als beim Bäcker oder im Bus. Das macht das ganze Ausgeh-Ding für mich nicht besser.

Dieses mein seltsames Seelenleben führt dazu, dass ich nach wie vor auf die Ansage „und danach wollen wir nochmal losziehen“ mit leisem Gruseln reagiere. Am aller-, aller-, allerschlimmsten: „Losziehen“ an Silvester. Eben noch in fröhlicher Runde zuhause, ausgestattet mit feinsten Cocktails, gutem Essen und bester Musik, jetzt schon an der zugigen S-Bahn-Station minderjährigen Silvester-Debütanten dabei zusehen, wie sie sich gegenseitig beim Kotzen festhalten; dann um 1.28 Uhr bei Minusgraden in Viererreihen Schlange stehen, um drinnen sardinendosen-artig gepresst blöd herumzustehen und 9,50 Euro für ein Glas warmen Sekt zu bezahlen. Total super.

Manchmal frage ich mich: bin ich spießig? Dorfkind forever? Uncool? Lahmarschig? Spaßbremse? Langweilig? Kapier den Thrill einfach nicht? Nö. Aber im geschützten Raum performt meine Lebensfreude einfach besser. Zugegeben: das Verlassen der Komfortzone hat noch keinem geschadet. Aber wenn es ums Nachtleben geht, verzichte ich gern darauf.


* Nichts gegen Pinneberg. Nur ein Beispiel. Pinneberg ist super.

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